Die weibliche Mut

Mut ist von alters her eine männliche Eigenschaft. Darum heisst es der Edelmut, der Freimut, der Hochmut. Klare Sache. Doch was ist mit Wörtern wie Anmut, Demut und Schwermut? Die sind weiblich! Sollte der Mut am Ende weniger männlich sein als gedacht?

Beim Erlernen einer Fremdsprache ist man überaus dankbar, wenn man anhand bestimmter Endungen das Geschlecht eines Wortes erkennen kann. Im Italienischen zum Beispiel gilt die Regel, dass Wörter, die auf –o enden, fast immer männlich sind: il vino, il cappuccino, il palazzo. Wörter auf –a hingegen sind – bis auf wenige Ausnahmen – weiblich: la gondola, la signora, la pizza.

Auch im Deutschen gibt es Endungen, die auf das Geschlecht eines Hauptwortes hindeuten. Wörter, die auf –ung enden, sind ausnahmslos weiblich: die Ahnung, die Berührung, die Zeitung. (Und wer jetzt einwenden will, das Wort «Kuhdung» sei aber männlich, der läuft Gefahr, auszurutschen und in selbigem zu landen.)

Bei einigen Endungen ist die Zuordnung des Geschlechts jedoch alles andere als eindeutig. Wörter auf –tum sind mehrheitlich sächlich: das Brauchtum, das Königtum, das Wachstum. Das gilt aber nicht für das Wort «Reichtum». Das Anhäufen von Reichtümern hatte offenbar schon immer etwas Männliches. Wer dahinter einen sprachlichen Chauvinismus vermutet, der sei getröstet: auch «der Irrtum» ist männlich!

Ein besonderes Interesse wecken Wörter, die auf –mut enden. Immer wieder wollen Leser von mir wissen, warum der Übermut und der Edelmut männlich seien, die Wehmut und die Schwermut aber weiblich. «Mut» sei doch ein männliches Wort, warum sind dann nicht auch alle Zusammensetzungen männlich? Die Frage ist berechtigt – und nicht ganz leicht zu beantworten. Das Geschlecht hängt nämlich von der Qualität der jeweiligen Eigenschaft ab. Wobei die Grammatik hier nicht zwischen guten (z.B. Edelmut, Freimut, Sanftmut) und schlechten (z.B. Missmut, Wankelmut, Unmut) Gemütszuständen unterscheidet, sondern zwischen lauten und leisen. Genauer gesagt zwischen nach innen und nach aussen gekehrten.

«Extrovertierte Affektbegriffe sind meist maskulin, introvertierte meist feminin», heisst es in einem Grammatikwerk. Ob solch verblüffender Erkenntnis würde Mister Spock von der «Enterprise» die Augenbrauen hochziehen und sagen: „Faszinierend!“. Welch ein Licht wirft dies wiederum auf das Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit! Hochmut, Übermut und Wagemut werden als extrovertiert und männlich empfunden, Sanftmut, Wehmut und Schwermut als weiblich-introvertiert. Ob das noch zeitgemäss ist? Wenn ich drüber nachdenke, fallen mir mehr schwermütige Männer als Frauen ein, und die Zahl der mir bekannten edelmütigen Frauen dürfte nicht kleiner sein als die der edelmütigen Männer.

Viel rätselhafter aber ist für mich die Tatsache, dass eine derart feine Unterscheidung wie die zwischen extrovertierten und introvertierten Affekten bereits in früheren Jahrhunderten ihren Niederschlag in der Grammatik finden konnte. Woher nahmen die Menschen zu jener Zeit, als Wörter wie Hochmut, Kleinmut, Langmut und Grossmut entstanden, jenes hoch entwickelte Sprachgefühl, das es ihnen erlaubte, zwischen nach innen und nach aussen gewandten Eigenschaften zu unterscheiden? Heute kann zwar fast jeder Deutsche irgendwie lesen und schreiben, und jeder zweite war auch schon mal im Fernsehen oder im Radio, aber nur die wenigsten sind in der Lage, ihre Gemütszustände zu beschreiben. Geschweige denn, ihnen eine grammatische Qualität zuzuweisen.

Als ich das Phänomen der mutigen Wörter, die mal männlich und mal weichblich sind, vor einer 6. Schulklasse ansprach, meldete sich einer der Schüler ganz aufgeregt und rief: „Bei uns daheim ist das auch so! Meine Mama heisst Almut und mein Papa heisst Helmut!“.

Quelle: Bastian Sick, Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod – Die Zwiebelfisch-Kolumnen